Hochmut, Hass und Liebe - Dieter Kleffner

Cover Hochmut, Hass und Liebe

Leseprobe:
Hochmut, Hass und Liebe:
Die 2. Generation Dieter Kleffner Paperback,
Format: 13,5 x 20 cm, 312 Seiten
ISBN: 978-3-96174-091-8 VK: 12,95 €
September 2021 Edition Paashaas Verlag, www.verlag-epv.de ∞

In Hippelank saß Josefine Wieland in der alten Hollywood-Schaukel und betrachtete ihren Garten. Die Sonne war heute unerträglich heiß. Seitdem Fritz, der alte Schmied, im letzten Jahr von ihr gegangen war, fühlte sie sich oft überflüssig. Wer freute sich über ihren leckeren Grünkohl? Wer freute sich über ihren einst so begehrten Pflaumenkuchen? Wer nahm ihr noch ein Glas Marmelade ab? Der alte Pflaumenbaum trug dieses Jahr wieder schwer. Seine Konkurrenz war der Apfelbaum, dessen Früchte nun auch leuchtend rot gereift waren. Als Svenja und Hauke noch Kinder waren, da hatte die Obsternte riesigen Spaß gemacht. Beide hatten die selbst gepflückten Früchte genossen, die man ja sonst nur für teures Geld kaufen konnte. Und wie war das heutzutage? Die alte Dame hatte in der Nachbarschaft gefragt, ob sich jemand die Pflaumen und Äpfel pflücken wollte. Doch niemand zeigte bis jetzt Interesse. Um nicht selbst auf die Leiter steigen zu müssen, kaufte die neue Konsumgesellschaft lieber das Obst im Supermarkt. In der schlechten Zeit hatte der Garten des Wieland-Kotten das Überleben der Familie gesichert. Aber das betraf eine andere Generation, Josefines Generation. Die ehemaligen Freunde und Nachbarn wohnten mittlerweile im Altenheim oder ruhten auf dem Friedhof. Früher hatten Fritz und Fine mit ihnen hier abends zusammengesessen, Geschichten erzählt, Heimatlieder aus der Mundorgel gesungen und viel gelacht. Heute saßen die meisten Alten alleine. Nur das Radio und die Flimmerkiste sorgten für etwas Ablenkung. Hin und wieder kamen Carmen und Adelbert zu Besuch. Aber nur kurz. Die anspruchsvolle Tochter ließ sich lieber von ihrem Grafen ins Theater oder zum Essen ausführen. Und wo steckten Josefines Enkel? Svenja lebte seit einigen Jahren mit ihrer Familie in der Nähe von Reit im Winkl. Nachdem Max und Svenja sich dort ein Haus gekauft und niedergelassen hatten, war Josefine nur noch einmal auf die endlos lange Reise nach Bayern gegangen. Zwei Wochen lang hatte die Enkelin der Oma die Sehenswürdigkeiten im Chiemgau und Berchtesgadener Land gezeigt. Der Höhepunkt war für Josefine ein Besuch im Restaurant “Kuhstall“ gewesen, denn dort waren die berühmten Sängerinnen Maria und Margot Hellwig persönlich mit ihrem “Servus, grüezi und hallo“ aufgetreten. Ein Foto samt den Autogrammen dieser Sängerinnen hatte noch heute in Josefines Wohnzimmer einen Ehrenplatz. Hauke war vor zwei Jahren nach Bornsiel in die Nähe von Kuddel und Heidemarie gezogen und hatte sich in der Touristenbranche selbstständig gemacht. Diese vielen Kilometer bis zur Waterkant oder dem Alpenrand, die zwischen ihr und den Enkelkindern lagen, ermöglichten kein geregeltes Familienleben mehr. In der guten alten Zeit hatten drei Generationen unter einem Dach gelebt. Da war kein Mensch einsam gewesen. Vor allem war immer jemand zur Stelle, wenn ein junges oder altes Familienmitglied in Not war. Josefine musste über diesen letzten Gedanken lachen. Ihre eigene Mutter hatte einmal gesagt: „Die schlechten Zeiten von heute sind morgen die guten Zeiten von gestern.“ Plötzlich bekam die alte Dame furchtbare Kopfschmerzen. Ihr linker Arm zitterte. Es fühlte sich an, als würde sich die Hollywood-Schaukel wie ein Karussell bewegen. Dann wurde es vor ihren Augen scheinbar dunkel. Ganz fern piepte etwas. Josefine hörte genauer hin. Also die Vögel piepten ganz anders. Sie öffnete zögernd ein Auge. Das grelle Licht einer Deckenlampe zwang sie, das Lied zu schließen. Eine fremde Stimme sagte: „Schauen Sie, Ihre Mutter wacht auf.“ Gräfin Rheineck trat an das Krankenbett und beugte sich zu dem Gesicht ihrer Mutter. Josefines Mund stand schräg. Ein Auge hatte sie geöffnet. „Mutter, hörst du mich?“, fragte die Gräfin. Josefine versuchte zu sprechen. Ihre Zunge war schwer. Nur mit Mühe sagte sie: „Svenja … mein Kind … gut, dass du gekommen bist …“ „Mutter, hier ist Carmen. Ich bin es. Svenja ist in Bayern. Verstehst du mich? Du hattest einen Schlaganfall. Der Nachbar hat dich neben der Schaukel liegen gesehen.“ Josefine versuchte erneut zu sprechen: „Svenja … mein Kind … dass du da bist …“ „Nein, Mutter, ich bin Carmen!“, rief die Gräfin nun lauter und blickte sich hilfesuchend zur Ärztin um. „Ihre Mutter ist verwirrt. Haben Sie bitte Geduld.“

Dieter Kleffner

Die Internistin blickte zu den piependen Überwachungsgeräten. Josefine bewegte zitternd ihren schiefen Mund. Kaum hörbar sagte sie: „Svenja, die Oma geht jetzt zum Opa.“ Dann schloss sie erschöpft ihr geöffnetes Auge. Gräfin Rheineck schüttelte den Kopf. „Das darf doch nicht wahr sein. Wieso sagt sie immer Svenja? Ich habe mich immer um Mutter gekümmert. Meine Tochter Svenja ist schon seit Jahren über alle Berge und kümmert sich um nichts.“ „Ihre Mutter ist in einem kritischen Zustand und verwirrt. Am besten gönnen wir ihr jetzt etwas Ruhe.“ ∞ Kuddel Petersen litt unter leichter Demenz. Das hieß, nur sein Kurzzeitgedächtnis hatte manchmal Aussetzer. Meistens konnte er das geschickt überspielen. Alte Geschichten gab er perfekt wieder. Eine solche alte Geschichte war auch vor zwanzig Jahren die Mondlandung gewesen. Kuddel und Mehnert, der Herr habe ihn selig, hatten stundenlang über die Zukunft der Raumfahrt diskutiert und geschwärmt. Gern würde Kuddel noch die erste bemannte Landung auf dem Mars im Fernseher sehen, aber mit verschmitztem Blick sagte er sich: „Bit datt so wiet is, smieten die Urenkel mit menen Knochen die Äppel von de Bööhm!“ Im Jahr 1977 war die Voyager 1 Sonde von Cape Canaveral mit einer Titan-Rakete gestartet, um das äußere Planetensystem zu erforschen. Kuddel hatte alle Berichte darüber verfolgt und sich begeistert, dass dieses Ding bereits den Jupiter und Saturn umrundet hatte. Atemberaubende Bilder von diesen neuen Ufern wurden nun im Fernseher gezeigt. „Moin, meen Jung“, begrüßte der alte Seebär seinen Urenkel Tim am Frühstückstisch, „haste goot geschloapen?“ „Ich habe geträumt, ich wäre mit einem Raumschiff in eine andere Galaxie geflogen. Das war spannend. Ich werde später Astronaut.“ „Kannst du vielleicht erst mal “Guten Morgen“ sagen?“ Svenja klapste ihrem Ältesten auf den Po und fragte: „Wo steckt Tom?“ „Der hört noch Kassette.“ Schon machte sich die Mutter kopfschüttelnd auf den Weg ins Dachgeschoss. „Datt find ik doll, datt du Astronaut wirs“, nahm Kuddel das Thema wieder auf. „Die Voyager 1 Sonde verlässt dit Johr na knapp twölf Johrn Flugtied uns Sünnsystem. Dat is en Tempo, dat is unbegriepelik.“ „Quatsch!“, erwiderte Tim. „Für die Strecke braucht Captain Kirk mit der Enterprise keine Stunde!“ „Moin, moin“, stand Hauke plötzlich in der Tür. „Du kommst gerade richtig“, strahlte Heidemarie, „setz dich und frühstücke mit uns.“ „Das lass ich mir nicht zweimal sagen“, setzte sich der Schnurbärtige gleich hungrig an den Tisch und griff in den Brotkorb. „Onkel Hauke“, fragte Tim mit vollem Mund, „spielst du wieder Fußball mit mir und zeigst mir ein paar Tricks?“ „Bevor Hauke dir ein paar Tricks beibringt, übst du erst einmal richtig zu frühstücken“, klapste Svenja ihrem Sohn hinter die Ohren. „Heb’ zuerst deine Krümel vom Boden auf, damit nicht alles festgetreten wird.“ „Och, leet den Jung doch“, lachte Heidemarie und lächelte Tim zu, „Hauke het hier fröher veel mehr rümgesaut!“ Der Schnurbärtige winkte ab und sagte zu seinem Neffen: „Klar zeige ich dir weitere Tricks. Aber nicht heute. Wir machen einen tollen Bootsausflug.“ Zur Oma gewandt sagte er: „Svenja und ich haben beschlossen, dich mitzunehmen.“ „Och nee, Kinners, ik bin doch al veel to old un stür euch bloots.“ Sie machte eine kleine nachdenkliche Pause und fragte mit verschmitztem Grinsen: „Wo soll et denn hengahn?“ „Wir haben vor, nach Langeoog rüberzufahren. Das geht mit dem Sportboot jetzt ruckzuck. Dort steigen wir auf die MS Frasier 3. Die ist hochseetauglich.“ „Jo, un denn?“, wurde Heidemarie ganz neugierig. „Ja, Oma, dann geht es nach Helgoland, wo du als Kind schon mal warst.“ „Un wer macht hie datt Middageeten?“, schlug Kuddel ärgerlich auf den Tisch. Die Teller sprangen hoch und Heidemarie zuckte zusammen. „Für dich ist gesorgt, Opa.“ Svenja strich dem Alten besänftigend über die Wange. „Im Kühlschrank stehen Kartoffelsalat und Fischfrikadellen. Ich habe auch mit eurer Nachbarin Frauke Hansen gesprochen. Die schaut zwischendurch ein paar Mal nach dir. Tue der Oma den Gefallen, noch ist sie so fit, dass sie eine Tagestour verkraftet.“ Kuddel machte ein beleidigtes Gesicht und zog seine Kapitänsmütze in die Stirn. Er klappte seine Zeitung grob zusammen und steuerte seinen Rollstuhl nach draußen vor das Haus. Ungeduldig zog der alte Mann eine Pfeife aus der Tasche, stopfte sie hastig und gab sich Feuer. Es dauerte nicht lange, bis sich kleine Wölkchen vom Vanilletabak in das offene Küchenfenster schlichen und der Krankenschwester das verbotene Rauchen meldeten. Sie wollte gerade vom Frühstückstisch aufstehen, da legte ihr die alte Dame die Hand auf den Unterarm: „Let ihm man hüüt tominnst sin Piepe, er het doch sünst nix moer“, und sah ihrer Enkelin tief in die Augen, „ik weet, Svenja, dat du dir Sörgen mokst. Aver er ist 85 Johr olt. Wer weet, wie lang Gott en mir noch lett.“ „Das ist es ja. Ich möchte, dass er noch ganz lange bei uns bleibt.“ Während der Flut war der Wattschlamm völlig unter Wasser und die Inseln sahen tatsächlich wie Inseln aus. Die Sonne ließ die vom Wind geblähten Tücher der Segelboote leuchten. Hauke Petersens großes Motorboot kam bei schneller Fahrt mit seinem Bug ein Stück aus dem Wasser heraus. Heidemarie saß backbord auf einem gepolsterten Sitz und hielt sich an einem Griff fest. Die Spitzen ihres fest verschnürten Kopftuchs flatterten wild im Fahrtwind. Svenja hatte es sich auf der Rückbank zwischen ihren Jungs bequem gemacht und hielt sie links und rechts in den Armen. Ihr blonder Zopf wehte und das Gesicht war feucht von der Gischt. Über ihnen kreischten Möwen. Nachdem sie sich ein Stück vom Hafen entfernt hatten, verließ Hauke die mit Bojen gekennzeichnete Fahrrinne, in der die Küsten- und Fischerboote gemächlich tuckerten. Jetzt konnte er richtig Gas geben und der Bug hob sich noch weiter aus dem Wasser. „Ist das geil!“, riefen Tim und Tom und konnten den Lärm des Außenbordmotors kaum übertönen. Hauke saß stolz hinter seinem Steuer und erklärte kaum hörbar die Details zu seinem neuen Boot. Hin und wieder hüpfte das Boot so durch die Wellen, dass sich die Wasseroberfläche hart und holprig anfühlte. Der Hafen von Bornsiel wurde hinter ihnen scheinbar kleiner und die Fischerhäuschen waren kaum noch zu erkennen. Svenja fiel auf, dass sich das Bild des Ortes aus dieser Perspektive in den letzten beiden Jahrzehnten deutlich geändert hatte. Die einst romantische Postkartenansicht wurde heute von klotzigen Hotelgebäuden gestört. Genauso schnell, wie Bornsiel scheinbar kleiner wurde, so wurde die angesteuerte Insel Langeoog nun größer. Hauke nahm Fahrt zurück und steuerte zu einem Anlegeplatz für private Yachten. Die Jungen kletterten heraus und vertäuten das Boot stolz mit Seemannsknoten, so wie Opa Kuddel ihnen das geduldig beigebracht hatte. Sie halfen der alten Dame aus dem Boot. Besorgt fragte Svenja: „Oma, war es schlimm für dich, dass Hauke so gerast ist?“ Sie blickte ihren Bruder vorwurfsvoll an. „Ob dat schlimm wor?“ Heidemarie schüttelte lachend den Kopf. „Nö, et wor doll! So flink bin ik noch nich hier west. Dat ik dat noch beleven dürt …“ Hauke klatschte begeistert in die Hände. „Das freut mich, Oma. Und morgen bringe ich dir auch noch das Surfen bei!“ Svenja meinte amüsiert: „Bruderherz, bei dir schlagen voll die Gene von Kuddel durch.“