Strandgeflüster ohne Ende - Manuela Klumpjan

Cover Strandgeflüster ohne Ende

Leseprobe
Hrg. Manuela Klumpjan
Strandgeflüster ohne Ende
Kurzgeschichten vom Strand
ISBN: 978-3-96174-097-0
Paperback, Format 13,5 x 20 cm,
204 Buchseiten
VK: 9,95 €
November 2021
Edition Paashaas Verlag,
www.verlag-epv.de

Hier ein Auszug aus:

Claudia Kociucki Wer zuerst da ist Es dunkelte bereits, als sie nach gut drei Stunden endlich in den Dünen ankamen. Voller Elan schmiss Lea ihr Fahrrad in den Sand. Endlich Meer! Der Wind wehte ihr die zerzausten langen Haare mitten ins Gesicht – ihr doch egal! Ohne das Rad abzuschließen, rannte sie direkt hinunter zum Strand. Sie schleuderte ihre Schuhe von sich weg und lief barfuß direkt ins salzige Nass. „Hey, Lea, warte auf mich! Ich schließe noch schnell ab, man weiß ja nie …“ Kopfschüttelnd sah Marvin Lea hinterher. Wo hatte die nur diese Energie her? Wenn es nach ihm ginge, würden sie jetzt einfach hier im Dünengras sitzen und was essen. Er sah das Meer doch, warum sollte er direkt hineinlaufen? Lea blieb ihm, wie so oft, ein absolutes Rätsel … Plötzlich erklang ein lauter Knall. Keine Ahnung, wo er herkam. Auch Lea blickte sich um, entdeckte aber nichts. Marvin zuckte mit den Schultern und lief dann auch endlich hinunter zum Strand. Sie gingen eine Weile beide nebeneinander mit den nackten Füßen durchs Wasser. Außer ihnen war keiner sonst zu sehen. „So schmeckt der Sommer!“ Lea begann zu singen, irgendwie hatte es ihr die alte LangneseWerbung gerade angetan. „Ein Eis, ja, das wäre es! Schau mal, da hinten scheint eine Strandbude zu sein! Wer zuerst da ist!“ Damit rannte Marvin lachend los und ließ eine ziemlich verdutzte Lea zurück. Ja, wenn es ums Essen geht, kann er sich bewegen, dachte sie noch, bevor es ihr schwarz vor Augen wurde … Marvin gab Gas. Zieh, zieh ... zieh! Er wechselte weiter nach rechts, wo der Sand etwas fester war, um nicht so tief einzusinken. Am Strand ließen sich Entfernungen schlecht einschätzen, es war vermutlich mehr als ein halber Kilometer bis zur Bude. Mal sehen, ob ich dich nicht heute nass machen kann, Lea … Mal sehen, wer zuerst da ist und sich ein Eis bestellt! Gegen Lea hatte er, sportlich gesehen, keine Chance, außer wenn man Billard als Sport ansah. Da machte sie ihm nichts vor. In den vier Jahren, die sie sich jetzt kannten, hatte sie vier Spiele gewonnen – eins pro Jahr. Zweimal war die schwarze Acht aus Versehen ins falsche Loch gekullert; einmal hatte er Lea an ihrem Geburtstag gewinnen lassen, und im letzten Jahr war er schier zu betrunken gewesen. Semesterabschlussfete, da war er unschuldig. 500 Meter. Ansonsten war Lea diejenige, die die Nase vorn hatte, wenn sie sich maßen: Beim Schwimmen war sie eine Bahn schneller, egal auf welcher Distanz, egal in welchem Schwimmstil. „Ein Wunder, dass du überhaupt ankommst mit deiner Technik“, lachte Lea, wenn sie in den Sommersemesterferien früh morgens den See durchquerten. Überhaupt nicht seine Tageszeit. Was tat er nicht alles, um ihr nahe zu sein? „Du erinnerst mich an unseren Hund“, neckte sie ihn des Öfteren. „Na los, streng dich an, du Dackel, wer zuerst da ist!“ 400 Meter. Wenn Marvin am anderen Ende des Sees angekommen war, gab Lea ihm mit einer Wasserfontäne die Loser-‘Sektdusche‘, was zuweilen in einer wilden Wasserschlacht endete. Zurück zum Steg schwammen sie gemächlich und schweigend nebeneinander. Wie oft hatte er sich vorgenommen, in diesen Momenten mit ihr zu reden, die Sache anzusprechen.

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Getan hatte er es nicht. Wenn niemand sonst zu sehen war, zog Lea ihren nassen Badeanzug aus und ließ sich auf ihr Saunatuch plumpsen. „Du Spießer“, schalt sie ihn und lachte. Wenn noch weitere Leute am See waren, blieb sie zum Glück angezogen und Marvin chillte erschöpft auf seinem Handtuch, während Lea quer über den Rasen Rad schlug oder an ihm zerrte und versuchte, ihn zu Federball, Frisbee oder Hacky Sack zu animieren. Sie war einfach nicht kaputt zu kriegen. Die Frau war echt anstrengend! Trotzdem. 300 Meter. (Am Strand zu rennen war, als schleppe man Meter für Meter zwei Sandsäcke an den Beinen hinter sich her.) Wie machte Lea das? Selbst die drei Stunden Radfahren heute hatte sie mit Leichtigkeit und plaudernd hinter sich gebracht. Ihm zuliebe hatte es zwei Pausen gegeben – ihr hatte es gereicht, während der Fahrt ein paar Schlucke aus der Wasserflasche zu nehmen. Lea war nicht umsonst eine der fittesten Sportstudentinnen ihres Jahrgangs. Sie war wie diese Jump `n Run-Männchen in den Videospielen, mit denen er sich abends die Zeit vertrieb, wenn er von der letzten MatheVorlesung zurück ins Studentenwohnheim kam und Lea anderweitig verplant war. 200 Meter. (Handy, Schlüsselbund und Portemonnaie drückten beim Laufen in die Leiste.) Welch ein genialer Zufall, dass er und Lea im ersten Semester zwei Zimmer im selben Wohnheim bekommen hatten! Nicht auf demselben Gang, jedoch so nah beieinander, dass sie zusammen abhängen, gemeinsam kochen und parallel büffeln konnten. Sie hatten bei der Erstsemesterbegrüßung nebeneinander gesessen, und Marvin stand seitdem in Flammen. Wenn sie nichts miteinander unternahmen (was in den meisten Fällen von Lea ausging), saßen oder lagen sie auf einem der Hügel hinter dem Hochhauskomplex (was Marvins Präferenz war) oder sahen mit den anderen Studis im Aufenthaltsraum im Keller fern (was für beide als Plan B herhielt). Ins Untergeschoss zu gelangen war für Lea ein ‚Jump `n Run‘-Parcours, denn Lea würde nie den Fahrstuhl benutzen – ob zwei Stockwerke oder sieben. Sie würde stattdessen das usselige Treppenhaus wählen, das so aussah, als wäre es seit dem Erstbezug in den 70ern nicht mehr vernünftig geputzt worden. (Wahrscheinlich die gleiche Putzkolonne, die die Uniflure wischte oder eben nicht wischte.) Lea drückte in der sechsten Etage auf den Knopf, um den Fahrstuhl anzufordern und weg war sie. „Wer zuerst da ist!“, rief sie ihm vergnügt aus dem Flur zu, und mit einem großen Rummmmms fiel die Brandschutztür zum Treppenhaus ins Schloss zurück. Lea war eine, die zwei Stufen auf einmal nahm und am Ende jedes Treppenabsatzes die letzten beiden übersprang. Sie schaffte es, stets eher anzukommen als Marvin mit dem Aufzug, der mehr Jahre auf dem Buckel hatte als er. 100 Meter. (Die Strand … hütte … kam einfach … nicht … näher.) Was für eine bescheuerte Idee, dachte Marvin. Wie hatte er a) annehmen können, die Distanz im Sprint zu schaffen, vor allem b) nach einem dreistündigen Fahrrad-Marathon und c) vor Lea das Ziel zu erreichen. „Nie nach hinten gucken, niemals!“, hatte Lea ihm eingebläut. Nach hinten zu schauen brachte einen aus dem Tritt, brachte einen aus der Spur. Marvin widerstand seinem Impuls, kurz über die Schulter zu schauen, wo Lea abblieb. Lea war ein Energiebündel, so ganz anders als er. Sie war spontan und sie zog ihn mit. Natürlich war dieser Wochenendausflug ihre Idee gewesen. Vorgestern. „Du tust so, als wärst du fünfzig“, hatte sie ihn geneckt, „dabei sind das schlappe fünfzig Kilometer bis zu diesem Zeltplatz hinter den Dünen. Das schaffen wir in zwei Stunden.“ „Du vielleicht.“ Lea hatte nicht locker gelassen: „Och, komm, das ist das letzte Wochenende, bevor wir für die Prüfungen lernen müssen. Ab Montag haben wir ein halbes Jahr keine Zeit für so etwas.“ „Ja, schon ... Aber Zelten?! Mit dem ganzen Gepäck auf dem Rad? Wenn uns das unterwegs einer klaut ...“ Lea hatte die Augen verdreht: „Quatsch. Donnerstag nach der letzten Veranstaltung fahren wir! Gut, dass ich mir in diesem Semester den Freitag freigehalten habe, was? Wann hast du Schluss?“ „Um sechs. Ausgabe der Skripte für die Übungsklausuren. Da muss ich hin.“ „Abgemacht.“ Lea hatte es also beschlossen. „Keine Widerrede, Marvin: Es ist mindestens bis 22 Uhr hell und bis dann ist auch die Zufahrt zum Campingplatz geöffnet. Wir haben doppelt so viel Zeit, wie wir brauchen.“ „Ich habe gar nichts gesagt, Lea!“ „Wolltest du. Gib es zu!“ Zieleinlauf. Leas Ausdauer war um Längen besser als seine. Dass sie ihn nicht überholt hatte, war komisch. Marvin taumelte auf die Strandhütte zu und schlug beim Abbremsen mit der Handfläche auf die Seitenwand. „Erster!“ Er ging ein paar Schritte, beugte sich nach vorn, stützte die Hände auf die Oberschenkel und japste. „Erster ...“ Niemand antwortete darauf. Niemand machte eine Bemerkung über seinen Laufstil, niemand klopfte ihm auf die Schulter, niemand lachte. Marvin drehte sich um. Lea war nicht da. Lea war überhaupt nicht gestartet, so wie es aussah. Sie befand sich dort hinten an der Stelle, von wo er losgerannt war. Er wischte sich mit dem Arm den Schweiß von den Augen, der sofort wieder nachlief. Lea stand nicht – sie lag. Lag auf dem Rücken, soweit er es erkennen konnte, die Beine halb im Wasser. Marvin war versucht, eine Sekunde lang zu glauben, dass es Absicht war und es ihr schlichtweg gefiel, dass die kleinen Wellen sie in regelmäßigen Abständen bis zum Bauch umspülten. Er kniff die Augen zusammen. Blickte von Lea weg zur Bude. Wog ab. Was ging schneller? Erst zu Lea, sehen, was los war? Von hier aus Hilfe holen? Jemanden mitnehmen?

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Er zögerte kurz. „Hallo? Hallo!? Ich brauche Hilfe!“ Marvin schlug kräftig an die Seitenwand der Hütte, während er zur Vorderseite ging. Der Langnese-Aufsteller mit den Eissorten stand neben dem Mülleimer, die Fensterläden über dem Tresen waren geschlossen. „Scheiße ... Scheiße!“ Das war so was von klar! Marvin drehte sich um – ein wenig zu abrupt – und stolperte über seine Beine. Fing sich und rannte zurück.